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Arno Backhaus

Im Morgengrauen

Gedanken zu Bildern von Arno Backhaus

Müllmänner als Bildsujet sind eher rar: Nur wenige Künstler dürften von ihnen inspiriert worden sein. Dabei geben sie als Gegenstand durchaus einiges her. Je nach Haltung lassen sich ihnen entweder pittoreske oder deprimierend realistische Züge abgewinnen. Sogar eine emblematische Verwertung ist denkbar. Etwa im Sinne des Literatur- und Kunsttheoretikers Walter Benjamin, der - allerdings in Worten – mit Blick auf den Soziologen Siegfried Kracauer im Jahr 1930 ein solches Bild entwarf: „ ... Ein einzelner. Ein Mißvergnügter, kein Führer. Kein Gründer, ein Spielverderber. Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune ‚Menschentum’, ‚Innerlichkeit’, ‚Vertiefung’ spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages.“

Nun blieb die Revolution bekanntermaßen aus. Auch 1968, als sie ein weiteres Mal proklamiert wurde, fand sie nicht statt. Benjamin, der in den 60er und 70er Jahren eifrig gelesen wurde, ist nicht mehr Mode - was keineswegs bedeutet, daß seine Lektüre sich nicht mehr lohnt -, und seine Emphase wirkt heute vielfach unbegreiflich. Müllmänner als Sujet zum Beispiel haben hier und heute, im westlichen Europa des frühen 21. Jahrhunderts, andere Valenzen. Auf den neueren Bildern von Arno Backhaus tauchten sie mehrfach auf. Benjamin-Leser mögen sich an die Stelle mit dem Lumpensammler erinnern - und der Kontrast könnte größer nicht sein.

Da steuert ein Müllmann eine Kehrmaschine. Den Blick unbeirrt geradeaus gerichtet, ist er unterwegs auf einer anscheinend leeren Straße. Der Eindruck von Sauberkeit drängte sich auf, huschten da nicht auf dem Gehsteig, nahe dem Gully, die drei Ratten. Der Mann auf der Kehrmaschine scheint sie nicht zu bemerken, jedenfalls schenkt er ihnen keine Beachtung. Um so weniger kann der Betrachter sie übersehen. Sie und der Abfall, von dem sie leben, werden immer da sein; die zukunftslose Kargheit, die aus dem streng komponierten Bild zu sprechen scheint, verbürgt die Wiederkehr des ewig Gleichen: Jeden Tag wird der Müllmann seine Runde drehen, nie wird sich etwas ändern. Backhaus, der die 68er Revolte als Jugendlicher miterlebte bringt lakonisch einen Zustand ins Bild, nicht mehr. Oder doch ... ?

Arno Backhaus hat einen stringenten Stil entwickelt: Klare, überschaubare Linienkonfigurationen, die in äußerster Knappheit Figuren und Objekte andeuten, lapidar auf die Fläche gesetzt. Die Müllmänner gehören zur Serie der „Berufsbilder“, die einigen, an sich wenig aufregenden Berufen gewidmet sind: vom Müllmann bis zum Geldscheine zählenden Bankangestellten. Niemand freilich wird diese Bilder für reportageartige Schnappschüsse aus der Arbeitswelt halten, für Duplikate einer Wirklichkeit, die man ohnehin kennt oder zu kennen glaubt. Dazu sind sie zu sehr Formulierungen in einer bildnerischer Kurzschrift, deren ästhetischer Wert nicht aus dem Mimetischen herrührt. Trotzdem beziehen sie sich ersichtlich auf eine prinzipiell für jeden erfahrbare Wirklichkeit. Allerdings fügen dieser Wirklichkeit etwas hinzu.

Mit dem deutschen Kunstwissenschaftler Gottfried Boehm können wir vermuten, daß sie dies tun, weil sie - wie auch andere Bilder der Moderne und der Postmoderne - eine Einheit kontrastierender, logisch an sich nicht immer miteinander verbundener Elemente sind, die aber - und das ist immer wieder überraschend - bei entsprechender Fügung etwas Lebendiges ergeben. Dieser Einheit des Heterogenen verdankt es sich vermutlich auch, daß sie einerseits in sich selbst leben, und andererseits danach zu verlangen scheinen, in Beziehung zur übrigen Welt gesetzt, mit anderen Worten, gedeutet zu werden. Es macht ihren Rang aus, daß sie von keiner Deutung restlos auszuschöpfen sind. Ein Bild ist, wie es Böhm in der Sprache des Theoretikers formuliert, ein „Sehangebot, das Identität besitzt, insofern es durch keine außerikonische Sichtbarkeit zu substituieren ist“. Bevor wir uns auf die Suche nach dieser „außerikonischen Sichtbarkeit“ begeben, wollen wir Arno Backhaus selbst zu Wort kommen lassen.

Ihn interessiere es - so schreibt er in einem seiner unveröffentlichten Notate, in denen er über die Gründe und Inhalte seiner Bilder nachdenkt - mit den Mitteln der Malerei die Wirklichkeit zu kommentieren, sie in Frage zu stellen oder sie zu überschreiten. Dies geschehe in einem Spannungsfeld zwischen der erfahrenen Realität und der Sehnsucht.

Diese Selbstaussage sollte jedoch nicht so verstanden werden, als teile sich sein Werk in Realitäts- und Sehnsuchtsbilder. Das Spannungsfeld erfüllt - wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit – fast jedes einzelne seiner Bilder. Gehen wir zunächst vom Pol der Wirklichkeit aus. Arno Backhaus scheint einen ganz arglosen, im Wortsinne naiven Blick auf sie zu werfen. Seine Müllmänner fahren die Kehrmaschine oder schieben verschlossene Rollcontainer. Anders als Benjamins emblematischer Lumpensammler lassen sie keine Fetzen im Morgengrauen flattern, und sollten sie es doch einmal tun, wäre es gewiß nicht das Morgengrauen des Revolutionstages, das Benjamin emphatisch beschwor. Aufs Äußerste reduziert, wirken sie nahezu emotionslos. Überhaupt zeigen Backhaus' Menschen keine Spur von Individualität, ganz gleich, womit sie sich befassen oder in welcher Situation sie sich befinden. Ihre Gesichter drücken nichts aus. In ihrer Emotionslosigkeit sind sie entfernte Verwandte der Figuren Fernand Legérs. Natürlich liegt in vieler Hinsicht eine große Distanz zwischen diesem, in alles Technisch-Konstruktive vernarrten Künstler - der übrigens Benjamins Glauben an das „Morgengrauen des Revolutionstages“ teilte - und Arno Backhaus, dessen Bilder viel spontaner wirken. Doch eines verbindet sie: Beide sind sie letztlich Nachfahren des Zöllners Henri Rousseau. Und wie er haben sie Teil an einer Sichtweise, wie sie Jahrhunderte anonymer - und auch volkstümlicher - Kunstproduktion besaßen, denen die Vorstellung von der Individualität als höchstem Gut des Menschen fremd war und die deshalb die menschliche Figur und das menschliche Gesicht nicht durch persönliche Ausdruckswerte charakterisierten. Analytische Blicke ins Innere sind dieser Sichtweise fremd. Bezeichnenderweise interessierten sich solche Künstler in der Regel auch wenig für die Raumtiefe.

Ähnliches gilt auch für die volkstümlichen Geschichten, die von Generation zu Generation weitergetragen wurden, die Märchen: Märchenfiguren - so der Schweizer Märchenforscher Max Lüthi - haben keine Individualität und kein Innenleben. Überhaupt zeichnen sich Märchen durch einen abstrakten Stil aus. Aber wie tief sie emotional zu berühren vermögen, darüber kann sich jeder Rechenschaft ablegen, der sich an seine eigene Kindheit erinnert.

Es ist sicher kein Zufall, daß ein Hauch von Märchen oder Traum auf oft schwer greifbare Weise in vielen Bildern von Arno Backhaus mitschwingt. Nicht auf der mimetischen oder narrativen Ebene; eher ist es eine Frage der Atmosphäre, die der Maler durch subtile Farbgebung zu erzeugen vermag. Auch hier ist er ein Meister der Reduktion, der mit präziser Intuition gerade so viele Akzente setzt wie nötig sind, um ein Höchstmaß an Ausgewogenheit oder auch an Spannung zu erzeugen. Aber es ist nicht allein die Farbe. Die Verwandlung des Alltäglichen ins Nichtalltägliche findet in diesem Werk gleitend statt. Die Gerätschaften, mit denen die Protagonisten der „Berufsbilder“ hantieren, sind teilweise kaum oder gar nicht zu identifizieren, teilweise sind sie rätselhaft oder surreal. Der Fischer, der unter dem Nachthimmel vor seinem Boot steht und in der Hand eine merkwürdige Tafel hält, auf der ein Vogel zu sehen ist, könnte „real“ sein - ein Mann mit einem Bild in der Hand -, aber genausogut - und die anscheinend so einfache, in Wirklichkeit höchst raffinierte Farbkomposition evoziert eher letzteres - könnte er die Hauptfigur in einem „großen“ mythischen Traum sein. Die Meeresszenen, die Frauen am Strand, im Südsee-Kostüm oder im Bikini, die nicht wenige dieser Bilder bevölkern, können ebenso der äußeren Welt angehören, wie sie Traum- und Phantasiebilder sind. Der kleine Maler, dessen Pinsel zum Speer und dessen Palette zum Schild geworden sind, stellt ein nicht aufzulösendes Rätsel dar, oszillierend zwischen freundlicher Ironie und gelebtem Traum. Betrachter dieser Bilder sollten sich das Beckettsche Diktum vor Augen halten, daß, wer Symbole sucht, dies auf eigene Gefahr tut.

Nein, Arno Backhaus malt weder die schnöde Wirklichkeit kritiklos ab, noch entwirft er Idyllen. Der Überschuß, mit dem bei ihm Märchenhaftes, Traumhaftes, und Phantastisches die Realität überschreiten, ist alles andere als eskapistisch oder affirmativ, wie zwei Lieblingsvokabeln der Generation lauteten, die als vorerst letzte glaubte, im Morgengrauen der Revolution zu leben. Im Gegenteil, er sensibilisiert, weil er die Spannung zwischen Tatsächlichem und Möglichem, weil er den Verlust an Erfüllungsmöglichkeiten erst auf diese Weise spürbar macht.

Arno Backhaus’ Bildinhalte lassen sich selten auf einfache Aussagen reduzieren. Geradezu als Ausnahme erscheint das Bild eines Managers, dessen Kopf durch das Zifferblatt einer Uhr mit einem paradoxen Nimbus geschmückt wird und der buchstäblich die Fäden zieht und Kellner, Reinigungspersonal und andere „Dienstleister“ als Marionetten führt. Man kann dieses Bild als eine Allegorie der globalisierten Arbeit im Takt einer rein quantitativen Zeit lesen und es zugleich als Gegenstück zu den Müllmännern begreifen: Überdeutlich macht es manifest, was in jenen latent vorhanden ist.

Unspektakulärer, aber nicht minder wirksam, sind seine stilleren Bilder. Man muß sie nur lange und intensiv genug anschauen, dann schwingen die Farben und die Linien, dann gewinnt diese sparsam und sensibel konturierte Welt an Eigenleben. Dann spürt man fast körperlich, daß die Stechuhr nicht alles sein kann. Im Leben wie in der Kunst.

Andreas Kühne / Christoph Sorger